250 Jahre erfolgreiche Differenzierung!

Von Wolfgang Türtscher

Mitte Mai 2024 erschien der Bericht „Bildung in Zahlen“ der Statistik Austria. Und prompt wird wieder das Märchen erzählt, dass „in Österreich Bildung vererbt werde.“ Sichtlich unter dem Einfluss der APA meldeten einige österreichische Zeitungen „Bildungsbericht: Herkunft entscheidet stark die Schullaufbahn“. Es handelt sich dabei nicht nur um einen medialen Schnellschuss, sondern auch um einen „ideologischen Ladenhüter“, der einfach nicht stimmt. Die vielen Zahlen werden meines Erachtens „sehr einseitig“ interpretiert.

Natürlich ist ein bildungsaffines Elternhaus ein Startvorteil für deren Kinder. Kinder, denen vorgelesen wird, mit denen man spricht und singt, haben es besser. Die Meldung, dass 61 % der Akademikerkinder auch Akademiker werden, interessiert nicht so sehr. Sie erscheint sogar gering, denn das hieße, dass 39 % der Akademikerkinder den Bildungsgrad ihrer Eltern nicht erreichen. Das wäre nach „geltender Lehre“ ein Bildungsabstieg, was es natürlich in der Praxis nicht ist.

Österreich ist ein Land der Bildungsaufsteiger. Dafür spricht, dass nur 30 % der Erstsemestrigen an den Universitäten und Fachhochschulen zumindest einen akademischen Elternteil haben; bei 18,7 % der Erstsemestrigen sind beide Eltern Akademiker, d.h., dass 70 % der Erstsemestrigen echte „Bildungsaufsteiger“ sind. Das ist ein europäischer Spitzenwert: Von 19 europäischen Ländern lag Österreich 2016 auf Platz 4: Nach Malta, Italien und Rumänien war Österreich damals mit 67 % der Erstsemestrigen ohne akademische Eltern auf dieser Position. (Diese Zahlen bestätigt auch der Beitrag im Standard vom 30.10.2024: „Bildung wird nur vererbt? Die Studierendenzahlen zeigen etwas anderes.“)

Ich selber habe 37 Jahre an einem Gymnasium unterrichtet und die Zahl der akademisch gebildeten Eltern war in der Oberstufe nie höher als 20 %. Als ich 1966 ins Gymnasium gekommen bin, hatte unsere Klasse 44 Schülerinnen und Schüler, fünf davon hatten einen akademisch gebildeten Vater, das sind 11,4 %.

Eine besondere Stärke des österr. Bildungssystems ist die duale Ausbildung – sie sichert ein gutes Wirtschaftswachstum und eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Es ist bekannt, dass die Länder mit wenig Maturanten und Akademikern, dafür vielen Absolventen der dualen Ausbildung, wirtschaftlich besser dastehen: Vorarlberg, Tirol, Ostschweiz, Baden-Württemberg, Bayern, etc. Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass Österreich ein sehr leistungsfähiges System der Berufsbildung aufweist, dem es gelingt, die Anzahl der Jugendlichen ohne Ausbildung („early school leavers“) vergleichsweise gering zu halten. Das gut ausgebaute System an berufsbildenden mittleren und höheren Schulen ermöglicht vor allem Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten einen Weg zur höheren Bildung.

Wenn man die Zahlen richtig liest,  weisen sie nämlich eine sehr hohe Aufwärtsmobilität quer durch fast alle Bildungsschichten nach, eine relativ ausgewogene soziale Zusammensetzung der Studienanfänger sowie eine gute Repräsentation von Studierenden aus bildungsfernen Schichten an den österreichischen Universitäten und Fachhochschulen.

Dazu passt gut, dass am 6. Dezember 2024 die österreichische Schulpflicht ihren 250. Geburtstag gefeiert hat. Maria Theresia war es ein Anliegen, das allgemeine Bildungsniveau zu heben, einerseits, um den wachsenden Ansprüchen der Arbeitswelt in der sich abzeichnenden Industrialisierung zu genügen, aber auch, um besser ausgebildete Soldaten zu bekommen. Die Schulpflicht wurde in den deutschsprachigen und den Ländern der Habsburgermonarchie deutlich früher eingeführt als etwa in Italien (1861), Großbritannien (1880), Frankeich (1882) und Finnland (1921). Das ist auch mit einGrund, warum unsere Schulsysteme ausdifferenzierter sind als in den Gesamtschulländern. (Erschienen am 31.1.25 in der Academia 1-25, der Zeitschrift des ÖCV.)

Mag. Wolfgang Türtscher, unterrichtete am BG Bregenz-Blumenstraße Deutsch, Geschichte und Ethik und war Volkshochschuldirektor, von 2011-2022 Obmann der ÖAAB-Lehrer Vorarlbergs und von 2015-2021 Pressesprecher von Pro Gymnasium.

Titelbild: Die vier Schätze des Gelehrtenzimmers umfassen alles, was ein Intellektueller in der chinesischen Kaiserzeit benötigte: Pinsel, Tusche, Reibstein und Papier. Quelle Wikipedia

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